Steckbrief
Die Bürgerräte in Vorarlberg dienen dazu, gesellschaftliche Diskussionen voranzubringen und Stimmungsbilder zu übermitteln. Sie helfen, Grundsatzdebatten möglichst ohne Einfluss destruktiver politischer Systemlogiken zu führen.
Land | Österreich, Vorarlberg |
Practice | Bürgerräte |
Abhängig/unabhängig | Einberufung durch die Exekutive oder alternativ mit 1000 Unterschriften aus der Bevölkerung |
Aufgabe | Voranbringen gesellschaftlicher Diskussionen, Übermittlung von Stimmungsbildern |
Kompetenzen | Beratende Funktion |
Vorteile | Hohe Legitimität; hilft destruktive politische Systemlogiken zu überwinden und wichtige Grundsatzdebatten zu führen |
Existiert seit | 2006, seitdem laufende Weiterentwicklung |
Beschreibung
Bürgerräte sind ein beratendes Instrument, das den Vorarlberger Bürgerinnen und Bürgern eine Möglichkeit zur Mitgestaltung in Politik und Verwaltung gibt. Auf Gemeindeebene werden die Bürgerräte durch die BürgermeisterInnen einberufen, auf Landesebene ist der Landeshauptmann beziehungsweise die Landeshauptfrau die entscheidende Person. Einzigartig ist die Möglichkeit, dass auch mit 1000 Unterschriften von BürgerInnen ein solcher Rat eingesetzt werden kann. Meist wird im Vorfeld ein spezifisches Thema vorgegeben. Per Zufallsauswahl werden 12 bis 15 Personen eingeladen, an einer mehrtägigen Klausur teilzunehmen. Diese dient der Beratschlagung und wird von professionellen ModeratorInnen geleitet. Durch Anwendung der Moderationsmethode „Dynamic Facilitation“ soll den TeilnehmerInnen möglichst viel Raum gegeben werden und ein Gesprächsklima entstehen, dass eine offene Diskussion und kreativen Output fördert. Die Klausur ist der erste Schritt im Bürgerratsprozess. Anschließend findet ein Bürgercafé statt. Dabei handelt es sich um eine öffentliche Präsentation und Diskussion der Klausur-Ergebnisse. Nach Möglichkeit sind immer auch VertreterInnen der Landespolitik und –verwaltung, sowie der Medien anwesend. Als nächstes tagt eine Resonanzgruppe, in der PolitikerInnen, BeamtInnen und TeilnehmerInnen der Bürgerräte die Ergebnisse besprechen und konkrete Ableitungen festlegen. Die Resonanzgruppe leistet eine wichtige Vorarbeit, bevor sich die zuständigen politischen Gremien der Exekutive und Legislative mit dem Thema befassen und dann letztlich entscheiden, was tatsächlich Umsetzung findet. Abschließend muss die auftraggebende Behörde den TeilnehmerInnen zwingend eine Rückmeldung mit Begründung geben, welche Vorschläge zur Umsetzung gelangt sind und welche nicht. Administrativ wird der gesamte Prozess vom Büro für Zukunftsfragen der Vorarlberger Landesregierung, eine dem Landeshauptmann zugeordnete Verwaltungseinheit, begleitet.
Vergleich zu Österreich
Auf Bundesebene wird – insbesondere von Regierungsseite – immer dann, wenn eine Diskussion festgefahren ist oder ideologische Gegensätze unüberwindbar erscheinen, nach dem Motto „wenn du nicht mehr weiter weißt, bilde einen Arbeitskreis“, eine Expertenkommission eingesetzt. Dabei werden aber keine BürgerInnen nach Zufallsauswahl zur Teilnahme eingeladen. Außerdem gibt es keinen festgelegten, klar strukturierten Prozess, was dazu führt, dass Änderungen der politischen Mehrheitsverhältnisse die Arbeit einer Expertenkommission gefährden und oft zum Stillstand bringen. Den Bürgercafés vergleichbare Transparenzinstrumente gibt es im Rahmen von Expertenkommissionen ebenfalls nicht.
Es wurden in Österreich auf Bundesebene und auch in anderen europäischen Staaten auf regionaler Ebene aber bereits vereinzelt Bürgerräte abgehalten. Jedoch nicht immer exakt nach dem Vorarlberger Modell.
Vorteile
Im Vergleich zu Expertenkommissionen schaffen Bürgerräte eine weitere Legitimationsgrundlage für politische Entscheidungen: Durch die Zufallsauswahl ist die Teilnehmergruppe eines Bürgerrates deutlich heterogener und das Gesamtprozessdesign ist auf größtmögliche Transparenz ausgerichtet. Diese Form der Legitimität führt dazu, dass die Arbeit eines Bürgerrates unabhängiger von möglichen Veränderungen der politischen Mehrheitsverhältnisse ist.
Im Vergleich zu den Bürgerräten auf Bundesebne und in anderen Ländern zeichnet sich das Vorarlberger Modell sowohl durch qualitative, als auch durch quantitative Unterschiede aus: Auf Landesebne haben in Vorarlberg bereits über zehn Bürgerräte stattgefunden; gemeinsam mit der kommunalen Ebene gab es bereits über 40 Anwendungen. Für eine hohe Qualität der Beteiligung sorgt in Vorarlberg das Büro für Zukunftsfragen, das sowohl Gesamtprozessdesign, Organisation und Durchführung verantwortet.
Die Möglichkeit, mittels Unterschriften aus der Bevölkerung einen Bürgerrat einzuberufen, ist einzigartig.
Ein Problem des Bürgerrates sind Selbstselektionsprozesse bei der Zufallsauswahl. So müssen deutlich mehr Einladungen zur Teilnahme versandt werden, als Plätze zur Teilnahme zur Verfügung stehen, um eine ausreichende Teilnehmerzahl zu rekrutieren. Gründe dafür sind wohl Anreisewege, Zeitressourcen und der persönliche Bezug zum Thema. Generell kann gesagt werden, dass das Interesse umso höher ist, je lokaler ein Bürgerrat abgehalten wird. Diese Tatsache muss bei einer Umsetzung auf Bundesebene mitbedacht werden. Ein weiteres Problem ist die soziale Selektivität: Vor allem Menschen mit vielen Zeitressourcen und höherem Bildungsgrad antworten positiv auf eine Einladung und sind somit überdurchschnittlich häufig vertreten. Um dem entgegen zu wirken, wird über eine Aufwandsentschädigung für die Teilnahme diskutiert. Eine mögliche Beeinflussung durch die Landesregierung muss kritisch beobachtet werden. Die 1000-Unterschriften-Regel kann diesbezüglich als korrektiv gesehen werden. Weiters werden auch regelmäßig Bürgerräte in einer offenen Form (d.h. ohne vorher festgelegtes Thema) abgehalten, weil bereits durch die Themenwahl eine Einflussnahme stattfindet.
In diesem Zusammenhang ist jedoch wichtig zu verstehen, dass es sich bei dem gesamten Bürgerratsprozess um ein beratendes Instrument handelt: Es geht um eine Orientierung am Dialog und nicht um mehr Macht für BürgerInnen oder eine Alternative zur parlamentarischen Gesetzgebung. Politische Diskurse sollen durch den Prozess an gesellschaftliche Diskurse angeknüpft werden und umgekehrt.
Der Einsatz von Bürgerräten kann theoretisch auch auf Bundesebene sowohl der Exekutive, als auch der Legislative helfen, die Diskussionen zu den großen Fragen unserer Zeit (Klimawandel, massive materielle Ungleichheit, Bildung, Wohnen, uvm) voranzubringen und gewisse Differenzen, die sich aus einer politischen Systemlogik ergeben, zu überwinden. Das politische Tagesgeschäft, aber vor allem ein Dauerwahlkampf verunmöglicht das Führen wichtiger Grundsatzdebatten z.B. zu Zukunftsthemen. Der Einsatz von Arbeitsgruppen und Expertenkommissionen kann dieses Problem alleine nicht zufriedenstellend lösen.
Weiterführende Informationen
Büro für Zukunftsfragen – Bürgerbeteiligung
Endbericht Forschungsprojekt BürgerInnenräte
Weitere Informationen für diesen Beitrag entstammen einem Interview, das vom Verein Respekt.net auf Grundlage der oben angeführten Masterarbeit mit deren Verfasser Daniel Oppold, MA am 21. August 2018 geführt wurde.
Recherche und Text: Maximilian Blassnig