Im Bundesverfassungsgesetz ist geregelt, dass Abgeordnete das freie Mandat besitzen: „§56 (1): Die Mitglieder des Nationalrates und des Bundesrates sind bei der Ausführung dieses Berufes an keinen Auftrag gebunden:“
Allein ihr Gewissen und ihre Überzeugung sollte ausschlaggebend für ihr Stimmverhalten im Parlament sein; einmal dorthin entsandt, können sie von der entsendenden Partei nicht mehr abberufen werden – es gibt keinen Recall, keine direkte Sanktionsmöglichkeit jenen gegenüber, die von der vorgegebenen Parteilinie ausscheren.
Soweit die Theorie.
In der Praxis gibt es die Fraktionsdisziplin. Abgeordnete halten sich in den meisten Fällen an die vor Abstimmungen ausgegebene Linie der eigenen Partei. Den Klubobleuten fällt die Aufgabe zu, möglichen Dissens bereits im Vorfeld auszuschalten, um ein entsprechend vorhersehbares Abstimmungsverhalten sicherzustellen. Dafür gibt es mehrere Gründe: einer davon ist die Berechenbarkeit. Eine Regierung kann nur dann effektiv agieren, wenn sie sich der Zustimmung ihrer Abgeordneten sicher sein kann. Ansonsten hinge ein mögliches Misstrauensvotum als Damoklesschwert im Raum. Ein weiterer ist die Arbeitsteilung. Abgeordnete sind nicht allwissend, sind keine Universalgenies. Es wäre für einzelne Abgeordnete nicht zu schaffen, sämtliche Gesetzesanträge durchzustudieren, sich in diese Themen einzuarbeiten und eine jeweils fundierte inhaltliche Position zu erarbeiten. Deshalb gibt es Spezialisierungen, Abgeordnete, die für die eigene Partei die inhaltliche Position vorgeben. Und schließlich werden Abgeordnete von ihren Parteien ins Parlament entsandt. Sie mögen zwar bei Wahlkämpfen engagiert mitgearbeitet haben, sie sind aber nicht – außer in den wenigen Fällen der Vorzugstimmenmandate – direkt gewählte Abgeordnete: Sie sind VertreterInnen ihrer Parteien. Überdies kommt hier der Aspekt der WählerInnen zum Tragen: Diese wählen Partei X und nicht Partei Y, weil sie sich von Partei X besser vertreten fühlen als von Partei Y. Und WählerInnen wählen das Programm von Partei X (das im Übrigen auch von den zukünftigen Abgeordneten mitgetragen wird) und eben nicht jenes von Partei Y.
Parlamentarier können abweichende Meinungen zur Diskussion stellen
Dennoch bedeutet dies nicht, dass die Abgeordneten nur vorprogrammierte Abstimmungsmaschinen sein müssen. Sie können – z.B. in Ausschüssen, noch stärker aber innerparteilich – versuchen, abweichende Meinungen zur Diskussion zu stellen, generell innerparteiliche Diskussionen und Kontroversen forcieren und so ihre Position einbringen. Sie können aber nicht die Grundsätze ihrer Partei in Frage stellen: Wer für eine liberalere Asylpolitik eintritt, wird bei der FPÖ genauso auf verlorenem Posten sein wie jemand, der von der SPÖ die Aufhebung der verpflichtenden Kammermitgliedschaft fordert. Dass Parteien aber ihrerseits in manchen Punkten mehr als flexibel sind, zeigte die Genese der Volksbefragung zur Wehrpflicht: Im Herbst 2010 kam – für manche überraschend – der Wechsel der SPÖ von der Ablehnung eines Berufsheeres zu dessen Befürwortung. Die SPÖ, die seit dem Bürgerkrieg von 1934 massiv und eindeutig gegen die Wiedereinführung eines Berufsheeres gewesen war. Und postwendend änderte die ÖVP ihre Linie.
Deutlich würde die Autonomie der Abgeordneten durch eine Änderung des Wahlrechts forciert werden. Wenn Abgeordnete sich darauf berufen könnten, von den WählerInnen ihres Wahlkreises direkt ins Parlament gewählt worden zu sein, wäre ihre Verantwortlichkeit der Partei gegenüber etwas geringer – allerdings würden wiederum in erster Linie ParteikandidatInnen in den Wahlkreisen das Rennen machen. Die Vorstellung, dass eine Person direkt und autonom vom Wahlkreis legitimiert in den Nationalrat einzieht und dort weltbewegendes durchsetzen kann, hat wenig Realistisches an sich. Ganz losgelöst von der eigenen Partei werden die Abgeordneten auch dann nicht sein. Überdies hätte dieses System den großen Nachteil, dass kleinere Parteien benachteiligt werden. Bei der Nationalratswahl im Oktober 2017 wurden 99 Mandate auf Regionalwahlkreisebene verteilt – und keines davon bekamen die NEOS oder die Liste Pilz.
Parlamentarier haben die Funktion der Kontrolle
Insgesamt bleiben die Abgeordneten in ihrer Legislativfunktion also weitgehend abhängig von den sie entsendenden Parteien. Parlamentarier haben aber noch eine zweite wesentliche Funktion, jene der Kontrolle. Und hier könnte tatsächlich angesetzt werden, wenn die Bedeutung der Abgeordneten bzw. des Parlaments insgesamt vergrößert werden sollte. Lange Zeit war die Einsetzung eines Untersuchungsausschusses Mehrheitsrecht. Dementsprechend wurden diese Untersuchungsausschüsse entweder nach Mehrheitswechsel – Beispiel Euroteam 2000 – oder aber dann eingesetzt, wenn der öffentliche Druck entsprechend groß geworden war – Beispiel AKH oder Lucona. Vor wenigen Jahren wurde nun die Einsetzung von Untersuchungsausschüssen Minderheitsrecht; ein Viertel der Abgeordneten kann seit Ende 2014 einen Untersuchungsausschuss einsetzen, was in manchen Bundesländern oder in anderen Ländern bereits vorher möglich gemacht worden war. Wenn man nun eine tatsächliche Stärkung der Rolle der Abgeordneten umsetzen möchte, so wäre dies eben über die Kontrollinstrumente machbar. Dazu bedarf es aber zum einen eines selbstbewussten Parlaments bzw. selbstbewusster Abgeordneter, zum anderen eines grundsätzlichen Bekenntnisses zur Aufwertung des Parlamentarismus. Das könnte in der Tat dazu führen, dass die real nicht gegebene Trennung von Legislative und Exekutive zwar im Sinne der Regierungsfähigkeit weiterhin gegeben ist, dass aber gleichzeitig die Abgeordneten nicht nur in dieser Rolle der Gesetzgebung verharren sondern ihre zweite wesentliche Aufgabe, jene der Kontrolle, effektiver ausüben können.
Dass – auch, aber nicht nur für diesen Fall – Abgeordnete von einem weiteren Ausbau der Unterstützung von parlamentarischen MitarbeiterInnen profitieren könnten, sei nur als Randbemerkung angebracht.

Reinhold Gärtner ist Professor am Institut für Politikwissenschaft an der Universität Innsbruck. Seine Forschungsschwerpunkte sind das Politisches System Österreichs, Rechtspopulismus, Rechtsextremismus und Politische Bildung.