Steckbrief

Das irische Citizens‘ Assembly versammelt zufällig ausgewählte BürgerInnen, die konkrete Empfehlungen zu Themen ausarbeiten. Das Parlament hat sich verpflichtend mit diesen Ergebnissen auseinanderzusetzen.

Land Irland
Practice Citizens‘ Assembly
Abhängig/unabhängig Eingerichtet durch eine parlamentarische Resolution für eine begrenzte Zeit; unabhängige, zufällig ausgewählte Mitglieder
Aufgabe Ausarbeitung konkreter Empfehlungen zu vorgegebenen Themen
Kompetenzen Die vom „Citizens‘ Assembly“ beschlossenen Empfehlungen werden an das Parlament weitergeleitet. Dieses ist zwar nicht an die Ergebnisse gebunden; muss sich jedoch verpflichtend damit auseinandersetzen und Stellungnahmen dazu abgeben.
Vorteile Versachlichung der Diskussion aufgrund eines respektvollen Rahmens und der Einbeziehung von Betroffenen und ExpertInnen. Erarbeitung von Lösungen abseits parteipolitischer Grenzziehungen.
Existiert seit 2016
Beschreibung

Irland war eines jener europäischen Länder, in denen sich die Finanzkrise 2008 besonders stark ausgewirkt hat. Mit der wirtschaftlichen Krise ging eine politische einher: Das Vertrauen der Bevölkerung in das politische System war an einem Tiefpunkt angelangt (Eurobarometer 2009). Aus dieser Situation heraus entwickelte sich das sogenannte irische „Citizens‘ Assembly“, nach dem Vorbild eines kanadischen Experiments, in dem per Los ausgewählte BürgerInnen ein neues Wahlrecht für die Provinz British Columbia erarbeiteten. Eine Gruppe engagierter irischer WissenschaftlerInnen organisierte im Jahr 2011 eine Initiative mit dem Titel „We the Citizens“. 100 BürgerInnen kamen zusammen, um sich über mögliche politische Veränderungen zu beraten. Das Projekt wurde wissenschaftlich dokumentiert und die Ergebnisse der Versammlung konnten überzeugen. So gelang es, dass alle großen irischen Parteien für die Parlamentswahl 2011 Ansätze des Konzepts einer Bürgerversammlung in ihr Programm übernahmen.

Nach der Wahl fasste die neue Regierung den Beschluss, eine „Convention on the Constitution“ einzurichten: Eine Bürgerversammlung, die über 14 Monate lang verschiedene Verfassungsreformen diskutieren sollte. Diese Versammlung wies eine große Besonderheit auf: Es nahmen nicht nur 66 durch Zufall ausgewählte BürgerInnen daran teil, sondern auch 33 Parlamentsabgeordnete. Für die weitere Entwicklung des Konzepts hin zum ‚Citizens‘ Assembly“ dürfte dieser Aspekt entscheidend gewesen sein: Denn die PolitikerInnen konnten dadurch ein grundlegendes Verständnis für deliberative Demokratieelemente erlangen. Das Parlament gab die Fragestellungen vor, unter anderem auch eine Eherechtsreform. Die Versammlung konnte sich durchringen, dem Parlament die Öffnung der Ehe für gleichgeschlechtliche Paare zu empfehlen. Der damalige Premierminister sah sich somit gezwungen, den Vorschlag einer Volksabstimmung zuzuführen, die letztlich zu einer Annahme der Reform führte. Dabei handelte es sich um eine Premiere: Erstmals änderte ein Staat seine Verfassung infolge von Beratungen zufällig ausgewählter BürgerInnen. Die „Convention on the Constitution“ bestand bis 2014, jedoch war eine ihrer abschließenden Empfehlungen die Einberufung einer neuen Versammlung.

So beschloss das Parlament im Juli 2016 eine Resolution zur Einrichtung eines „Citizens‘ Assembly“. Diese Versammlung nahm bereits wenige Monate später ihre Arbeit auf. 99 BürgerInnen sollten daran teilnehmen. Dazu kam noch die Richterin Mary Laffoy als von der Regierung ausgewählte Vorsitzende der Versammlung. Wieder gab die Politik mehrere Themen vor. Die Parlamentsresolution verpflichtete die Regierung, die Finanzierung sicherzustellen und alle Empfehlungen ernsthaft in Betracht zu ziehen. Außerdem wurde in beiden Kammern des Parlaments ein Ausschuss zur Beratschlagung der Berichte des „Citizens‘ Assembly“ eingerichtet. Die Mitglieder der Versammlung wurden per Zufall ausgewählt, wobei demographische Variablen auf Grundlage des Zensus für eine repräsentative Zusammensetzung in Hinblick auf Alter, Geschlecht, soziale Klasse und regionale Verteilung sorgen sollten. Potentielle TeilnehmerInnen wurden weiters einem Screening unterzogen. Mitglieder von Interessen- und Lobby-Gruppen wurden ausgeschlossen, da die Meinungen solcher Organisationen gesondert und transparent nachvollziehbar eingeholt werden sollten. 53 TeilnehmerInnen wurden im Laufe des Prozesses von 2016 bis 2018 ausgewechselt. Die übrigen 46 Personen blieben die gesamte Periode dabei und brachten sich zwei Jahre lang an mehreren Wochenenden in ihrer Freizeit ehrenamtlich ein. Einzig Reisekosten, Unterkunft und Verpflegung wurden übernommen. Neben dem „Citizens‘ Assembly“ selbst wurde noch eine Expertengruppe eingerichtet, die sich je nach Thema unterschiedlich zusammensetzte. Ihre Aufgabe war es, Personen auszuwählen, die entweder als persönlich Betroffene oder aufgrund ihrer sonstigen Expertise für die Beantwortung von Fragen der Versammlung zur Verfügung stehen sollten. Ziel war es, alle Seiten einer Diskussion angemessen vertreten zu haben. Der formale Ablauf war bei allen Themen derselbe: Zuerst hatten ExpertInnen Zeit, ihre Einschätzung zu präsentieren. Anschließend konnten Zivilgesellschaft und Interessenvertretungen ihre Sichtweise vorbringen. Darauf folgte die Erörterung der schriftlich eingesendeten Meinungen aus der Bevölkerung. Auf Grundlage dieser Information gingen die Mitglieder dann in die Diskussionsphase über. Am Ende wurden von den Mitgliedern konkrete Empfehlungen abgestimmt. Wie oft und regelmäßig die Versammlung tagte, entschied die Vorsitzende – je nach Bedarf – von Thema zu Thema unterschiedlich. Das Parlament war zwar nicht an die Empfehlungen des „Citizens‘ Assembly“ gebunden, jedoch musste es darauf antworten. Sollte einer Empfehlung gefolgt werden, musste die Regierung einen Zeitplan zur Durchführung einer Volksabstimmung vorlegen. Ursprünglich hätte die Versammlung bis Mitte 2017 alle vorgegebenen Themen diskutiert haben sollen, jedoch verlängerte das Parlament die Periode bis 2018, um ausreichend Zeit für alle Debatten zu gewährleisten.

Situation in Österreich

Wie zu den BürgerInnenräten gibt es auch zum „Citizens‘ Assembly“ kein passendes Pendant auf österreichischer Bundesebene. Beides sind deliberative Konzepte, die festgefahrene Diskussionen zu umstrittenen Themen voranbringen sollen. Im Beitrag zu den BürgerInnenräten wurde bereits dargestellt, dass die sogenannten Expertenkommissionen, die in Österreich immer wieder zu diesem Zweck eingesetzt werden, nur bedingt mit den BürgerInnenräten und dem „Citizens‘ Assembly“ vergleichbar sind. Auch sie sollen helfen, Diskussionen abseits von Parteipolitik zu führen, jedoch dienen sie nicht der BürgerInnenbeteiligung und weisen dadurch auch nicht die notwendige Legitimität auf, um nachhaltigen Einfluss auf politische Entscheidungen auszuüben.

Vergleich

Ein Nachteil des „Citizens‘ Assembly“ liegt in der sozialen Durchmischung. Vor allem Menschen mit einem hohen sozio-ökonomischen Status können sich vorstellen, ehrenamtlich an Diskussionen zu komplexen Themen an mehreren Wochenenden teilzunehmen. Die OrganisatorInnen des „Citizens‘ Assembly“ versuchten dieser Tatsache so gut wie möglich entgegen zu wirken: Für die Wochenenden, an denen die Versammlung tagte, wurde beispielsweise Kinderbetreuung organisiert. Auch in der Zufallsauswahl sollte dieser Faktor – wie oben beschrieben – berücksichtigt werden.

Jedoch sind bei der Durchführung der Auswahl Fehler unterlaufen und sieben Mitglieder der Versammlung kamen nicht per Zufall gemäß der Vorgaben in ihre Position. Diese Tatsache wurde Gegenstand von politischen Auseinandersetzungen und schadete letztlich der Glaubwürdigkeit der gesamten Idee.

Jedoch können langfristig die Erfolge des irischen „Citizens‘ Assembly“ überzeugen. Medien und politischen Parteien kann durch diesen Prozess eine gewisse Deutungshoheit genommen werden. Weiters gewinnen Diskussionen auf Basis von Fakten durch die Einbeziehung von ExpertInnen und Betroffenen einen neuen Stellenwert. Der respektvolle Rahmen, der durch einen klar strukturierten Ablauf und eine professionelle Moderation geschaffen wird, stellt sicher, dass auch wirklich auf die breite Basis von Informationen eingegangen wird. Die Ergebnisse des irischen „Citizens‘ Assembly“ zeigen, dass die Diskussionen zu mitunter hoch emotionalen und kontroversen Themen tatsächlich sehr konstruktiv verlaufen sind. Das bekannteste Beispiel ist jenes zur Abtreibungsgesetzgebung. Irland hatte viele Jahre eines der restriktivsten Abtreibungsverbote in ganz Europa. Die Politik schrak davor zurück Reformen in diesem Feld anzugehen. Das „Citizens‘ Assembly“ sollte sich in Folge damit befassen. Neben ExpertInnen wurden auch betroffene Frauen angehört. Die Diskussion verlief äußerst sachlich und am Ende stand eine konkrete Empfehlung für eine Reform zur Liberalisierung der diesbezüglichen Rechtslage. Bei einer Volksabstimmung im Mai folgten 66 Prozent der irischen Bevölkerung dem Vorschlag der Versammlung. In einem stark polarisierenden Themenfeld konnte am Ende eine mehrheitsfähige Entscheidung getroffen werden.

Das „Citizens‘ Assembly“ muss, ähnlich der BürgerInnenräte in Vorarlberg, als eine Ergänzung zur repräsentativen, parlamentarischen Demokratie gesehen werden. Es werden in diesem Rahmen keine Gesetze beschlossen, jedoch wird wichtige Vorarbeit geleistet. Richterin Laffoy gab am Ende die klare Empfehlung an andere Staaten, sich das „Citizens‘ Assembly“ zum Vorbild zu nehmen. Es gibt bereits in einigen Ländern dahingehende Bestrebungen; so startet in Nordirland gerade ein Projekt nach irischem Vorbild.

Recherche und Text: Maximilian Blassnig