Friedhelm Frischenschlager hat nahezu alle politischen Ebenen aus nächster Nähe kennengelernt. Er war fünf Jahre lang im Gemeinderat der Stadt Salzburg vertreten. Von 1977 bis 1983 und erneut von 1986 bis 1996 war Frischenschlager Abgeordneter zum Nationalrat: Zuerst als Mitglied des FPÖ-Parlamentsklubs und ab 1993 für das Liberale Forum. In den 1980er-Jahren war Frischenschlager drei Jahre lang Bundesminister für Landesverteidigung in der rot-blauen Koalition unter Bundeskanzler Sinowatz. 1996 wurde Friedhelm Frischenschlager auf der Liste des Liberalen Forums in das Europäische Parlament gewählt. Danach war er einige Jahre im Rahmen der OSZE im Kosovo zur Unterstützung des dortigen Parlamentsaufbaus tätig. Als Vorsitzender der Europäischen Förderalisten Österreichs durfte Frischenschlager auch noch die Rolle eines zivilgesellschaftlichen Akteurs im politischen Prozess kennenlernen. Diese vielseitige, praktische politische Tätigkeit kann als Ergänzung zu seinem Beruf gesehen werden: Frischenschlager ist Politikwissenschaftler. Die Perspektive seiner wissenschaftlichen Disziplin tritt während des Gesprächs mit starkeAbgeordnete.at regelmäßig in den Vordergrund.

 

Ein echter „parlamentarischer Betrieb“ im Europäischen Parlament

Frischenschlager beschreibt die Entwicklung des Europäischen Parlaments als langsamen Wachstumsprozess und erinnert sich an die erste Direktwahl im Jahr 1979 zurück. Nach und nach kamen neue Kompetenzen für das Parlament hinzu. Seit dem Vertrag von Lissabon 2009 würde Frischenschlager das Europäische Parlament als wesentlich gestärkt beschreiben. Zwar fehlt weiterhin ein echtes Initiativrecht: Der Gesetzgebungsprozess muss durch die Europäische Kommission in Gang gesetzt werden. Im Vergleich dazu besitzt der österreichische Nationalrat ein solches Recht, doch Frischenschlager bezeichnet die Gesetzesinitiativen aus der Mitte des Parlaments heraus als die „unparlamentarischsten Initiativen“: Da bei diesen das sogenannte Begutachtungsverfahren entfällt, wählt die Bundesregierung regelmäßig den Umweg über die Abgeordneten ihrer Fraktionen, um eine öffentliche Diskussion und zivilgesellschaftliche Mitsprache zu unterbinden. Er hält es zwar für sinnvoll, ein Initiativrecht für das Europäische Parlament zu fordern, überbewerten sollte man dieses jedoch nicht. Anders als am österreichischen Nationalrat schätzt Frischenschlager am Europäischen Parlament das Vorhandensein eines echten „parlamentarischen Betriebs“. Es herrsche eine parlamentarische Offenheit, der Fraktionszwang sei extrem gemildert und somit sei oft nicht schon von Vornherein klar, wie eine Entscheidung ausgeht. Frischenschlager erinnert sich positiv daran, dass in den Ausschüssen des Europäischen Parlaments tatsächlich um Mehrheiten gerungen wird. Auf die Frage, was das Europäische Parlament vom Nationalrat lernen könne, findet Frischenschlager keine Antwort. Umgekehrt sieht er jedoch viele Best-Practice-Beispiele, auch wenn die europäischen Instrumente aufgrund ihrer Einbettung in eine andere politische Kultur nicht einfach auf die mitgliedsstaatliche Ebene umgelegt werden können.

 

Historischer Hintergrund des statischen Parlamentarismus in Österreich

Frischenschlager ist der Auffassung, dass Österreich mit Ausnahme der ersten Jahre der ersten Republik immer einen unterentwickelten Parlamentarismus hatte. Zwar gab es vereinzelt lebendige Momente des österreichischen Nationalrats, aber diese waren die Ausnahme. Lange Zeit habe ein wesentliches Element parlamentarischer Demokratien gefehlt: Der Machtwechsel über Wahlen. 1945 bis 1947 regierte eine Konzentrationsregierung, auf die eine „in Stein gemeißelte Koalition“ folgte. Der Parlamentarismus sei dadurch stets statisch gewesen, die eigentlichen Entscheidungen hätte der Koalitionsausschuss getroffen. Die damaligen Auseinandersetzungen zwischen SPÖ und ÖVP bezeichnet Frischenschlager rückblickend als „l’art pour l’art“. Die Alleinregierung der ÖVP bewirkte schließlich einen ersten Aufbruch. Darauf folgte ab 1970 die Alleinregierung der SPÖ, anfangs gestützt durch die FPÖ. Bedingung für diese Zusammenarbeit war eine Reform des Wahlrechts, die kleineren Parteien mehr Chancen einräumen sollte. Die ÖVP hatte sich langsam in der Oppositionsrolle einzufinden. Insgesamt wurde das Parlament schrittweise lebendiger. Immer mehr kam dem Nationalrat eine Bühnenfunktion zu: Eine öffentliche Auseinandersetzung fand statt. 1986 zogen die Grünen erstmals in den Nationalrat ein; im selben Jahr begann die Zeit des starken Stimmenzuwachses der FPÖ unter Jörg Haider. Schließlich folgte 1993/94, unter Beteiligung von Friedhelm Frischenschlager, die Abspaltung des Liberalen Forums von der FPÖ. Damit war mit einem fünften Klub im Nationalrat ein zusätzliches parlamentarisches Element vorhanden. Doch trotz dieser Entwicklung regierten nahezu durchgehend fixe Mehrheiten. So kam es nicht dazu, dass das Parlament zusätzlich zur beschriebenen Bühnenfunktion auch seine legistischen Aufgaben wahrgenommen hat. Die Trennlinie verläuft im politischen System Österreichs nicht zwischen Regierung und Parlament, sondern zwischen Mehrheit und Opposition. Inhaltlich sei der österreichische Nationalrat unterentwickelt: Input kommt vor allem von der Sozialpartnerschaft und den Ministerien. Das Parlament agiere als „Bestätigungsmaschinerie“. Diese Problematik sei auch heute noch vorhanden, meint Frischenschlager, und ärgert sich über das ÖIAG-Ablösungsgesetz, für das das Finanzministerium nur eine viertägige Begutachtungsfrist vorsah. So wird ein echter politischer Diskurs verunmöglicht. Auch die seltene Anwesenheit der Regierungsspitze bei Nationalratssitzungen sieht Frischenschlager als Zeichen der schwachen Stellung des Parlaments in Österreich.

 

Probleme im Europäischen Parlament: „Es frisst dich auf“

Als Grundgedanke des Parlamentarismus nennt er die offene Diskussion mit der Vermutung eines positiven, gemeinsamen Ergebnisses. Das Europäische Parlament käme diesem Ideal deutlich näher. Doch ein Defizit in der Praxis sei seine Größe. Die Abstimmungen erlebte Frischenschlager mitunter als unüberschaubar: Es gab Abstimmungslisten mit teilweise hunderten von Abänderungsanträgen. Man musste sich auf die eigene Fraktion verlassen und bei der elektronischen Abstimmung extrem aufmerksam sein. Er war als Mitglied des Europäischen Parlaments drei Wochen im Monat unterwegs: Am Montag reiste er nach Brüssel oder Straßburg, am Donnerstagabend ging es zurück nach Österreich. Dazwischen lagen lange und ausgefüllte Tage. Freitag, Samstag und Sonntag waren dem Restberuf, der Partei- und Öffentlichkeitsarbeit und schließlich der Familie gewidmet. „Es frisst dich auf“, bringt Frischenschlager seine Erfahrung auf den Punkt. Er empfiehlt eine Reduktion, unter anderem über eine Reform der Geschäftsordnung. Vielleicht könnte eine Zusammenlegung der Standorte Straßburg und Brüssel helfen.

 

Ein anderes, ergebnisoffeneres Politikverständnis

Der Umgangston im Europäischen Parlament unterscheide sich stark vom österreichischen Nationalrat: „Das tagtägliche Gesicht-Zerkratzen gab es damals noch nicht.“ Frischenschlager erlebte in Brüssel und Straßburg weit weniger Feindseligkeit, da allen klar war, dass man miteinander reden muss. Es war selbstverständlich, Empfehlungen und Meinungen von KollegInnen anderer Parteien einzuholen. Mit dem Erstarken der extremen Rechten erwartet Frischenschlager jedoch auch auf europäischer Ebene eine Verschlechterung des Klimas. Die unterschiedliche Diskussionskultur sei aber auch institutionell bedingt. Während der österreichische Nationalrat, wie oben beschrieben, inhaltlich ausgehungert werde, werden im Bundeskanzleramt und beim Vizekanzler „Think Tanks“ eingerichtet. Das Informationsgleichgewicht wird weiter zulasten des Nationalrats einseitig verschoben. Auf europäischer Ebene wird strukturell auf eine sachlichere Diskussionsbasis hingewirkt. Das Instrument des Grünbuchs spielt in diesem Zusammenhang eine wichtige Rolle: Ein Problem wird identifiziert, um dann Wissenschaft und Zivilgesellschaft die Möglichkeit zu geben, fundierte Analysen zu liefern. Die Ergebnisse sind öffentlich zugänglich und bieten die Chance, ein Thema zu besprechen, ohne sich sofort auf eine konkrete politische Option festlegen zu müssen. Dahinter ortet Frischenschlager ein grundsätzlich anderes, ergebnisoffeneres Politikverständnis. Auch die Tatsache, dass auf europäischer Ebene keine starren Mehrheitsverhältnisse existieren, stärkt den Parlamentarismus: Es wird keine Norm ohne aktives Mitwirken des Europäischen Parlaments beschlossen. Es gibt regelmäßig Kommissionsinitiativen, die keine Mehrheit finden. Grundsätzlich handle es sich auch um ein überaus transparentes Parlament: Die Abstimmungen finden regelmäßig öffentlich statt. Aufgrund des elektronischen Abstimmungssystems können die BürgerInnen das Abstimmungsverhalten ihrer Abgeordneten im Internet nachverfolgen.

 

Die Gefahr der illiberalen Demokratie

Doch Frischenschlager äußert auch Sorgen hinsichtlich der weiteren Entwicklung. Als größten Mangel des Europäischen Parlaments und der Union insgesamt wertet Frischenschlager die politische Kommunikation. Demokratie bedeute notwendig politische Auseinandersetzung, also muss eine Öffentlichkeit bestehen und diese setze die Chance voraus, mit der eigenen Meinung durchzudringen. Auf diesem Feld habe die Europäische Union nicht die geringste Chance, wie Frischenschlager mit einem Blick nach Ungarn feststellt. Dort gelingt es der Europäischen Union nicht, wirkungsvoll auf antieuropäische Regierungskampagnen zu antworten. Die Öffentlichkeitsarbeit der Union dürfe nicht den nationalen Regierungen überlassen werden. Es brauche einen Diskurs direkt auf der Ebene der europäischen Politik. Auf nationaler Ebene wird über Nachrichtensendungen und Presse täglich vermittelt, welche politischen Themen im Nationalrat anstehen und wie sich die einzelnen Parteien dazu positionieren.

Zu jenen Vorhaben, die im Europäischen Parlament auf der Tagesordnung stehen, finden dagegen nur selten öffentliche Debatten statt. Jedoch äußert Frischenschlager abschließend auch Sorgen hinsichtlich der diskursiven Öffentlichkeit auf nationaler Ebene: In der sogenannten „Message Control“ und den Angriffen auf den öffentlich-rechtlichen Rundfunk sieht er äußerst gefährliche Entwicklungen. Eine Orientierung in Richtung autoritärer, illiberaler Demokratie sei nicht zu verkennen. Das gilt für Österreich, aber auch für mehrere andere europäische Staaten. Insofern kann der kommenden Wahl zum Europäischen Parlament eine besondere Bedeutung beigemessen werden: „Europapolitisch tut sich viel. Erstmals findet eine wirklich europapolitische Wahl statt.“

 

Interview und Text: Maximilian Blassnig.

Dr. Friedhelm Frischenschlager, Bundesminister aD, Vizepräsident der Europäischen Bewegung Österreich

Dr. Friedhelm Frischenschlager auf der Website des österreichischen Parlaments: https://www.parlament.gv.at/WWER/PAD_00401/