Im Vorfeld der Wahl zum Europäischen Parlament 2019 beschäftigen wir uns in mehreren Blog-Beiträgen mit dem Europäischen Parlament und ziehen Vergleiche zum österreichischen Nationalrat. Dabei haben wir auch mit Mag.a Ulrike Lunacek gesprochen, die nach zehn Jahren als Abgeordnete zum Nationalrat von 2009 bis 2017 Mitglied des Europäischen Parlaments war.
„starkeAbgeordnete.at“: Welche Unterschiede haben Sie in den Arbeitsweisen der beiden Parlamente erlebt?
Ulrike Lunacek: Dem Europäischen Parlament wird oft vorgeworfen, es sei kein richtiges Parlament, weil es selbst kein Initiativrecht für Gesetze hat. Das stimmt, jedoch kann das Europäische Parlament seit dem Inkrafttreten des Lissabon-Vertrags 2009 mittels eines Initiativantrages die Kommission auffordern, binnen sechs Monaten einen Gesetzesvorschlag vorzulegen – oder zu erklären, warum nicht. Doch auch im Nationalrat werden Gesetzesvorschläge in den seltensten Fällen vom Parlament selbst initiiert. Die Opposition weiß, dass eigene Vorschläge so gut wie nie eine Mehrheit finden. Meist kommen die Gesetzesvorschläge aus den Ministerien beziehungsweise der Regierung.
Zwei wirklich große Unterschiede sind hingegen die folgenden:
Erstens wird im Europäischen Parlament wirklich jedes (!) Gesetz, jede Entschließung fraktionsübergreifend verhandelt. Im Nationalrat sind das nur die Geschäftsordnungsregeln. Ich habe in meinen zehn Jahren im Nationalrat nur ein Gesetz, nämlich das österreichweite Tierschutzgesetz, erlebt, das tatsächlich von den Parlamentsabgeordneten aller Parteien ausverhandelt wurde. Im Europäischen Parlament ist dies Alltag, und außerdem wird auch die Federführung für die einzelnen „Berichte“ nach d’Hondt vergeben: Demnach haben auch kleinere Fraktionen ihre BerichterstatterInnen, das sind die VerhandlungsführerInnen, und die geben die Richtung vor und haben, wenn sie gut verhandeln, großen Einfluss.
Zweitens gibt es im Nationalrat – im Gegensatz zum Europäischen Parlament – eine klare Trennung zwischen Regierungs- und Oppositionsabgeordneten: Üblicherweise stimmen alle Regierungsparteimitglieder mit der Regierung. Vor allem in den NR-Klubs der Regierungsparteien herrscht Klubzwang, auch wenn das offiziell geleugnet wird. Ein seltenes Beispiel, wie es anders geht, war 2011/2012 die schon seit den 1970er Jahren immer wieder aufkeimende Debatte über die geschlechtergerechte Änderung zweier Zeilen aus dem Text der Bundeshymne: Fraktionsübergreifend hatte es die Initiatorin Maria Rauch-Kallat (ÖVP) mit Frauen aus den anderen Klubs vorbereitet, und es gelang trotz Verhinderungsversuchen in ihrer eigenen Partei, sodass schließlich auch die Töchter neben den Söhnen in der Bundeshymne verankert wurden, und aus den „Brüder-„ die „Jubelchöre“ wurden.
Im Europäischen Parlament sitzen sich nicht Regierungs- und Oppositionsabgeordnete gegenüber, es gibt keinen Fraktionszwang. Die Fraktionsmitglieder stimmen selten alle gleich ab. Das heißt: Gute VerhandlerInnen finden auch in den anderen Fraktionen Verbündete und wissen, dass sie Mehrheiten fraktionsübergreifend suchen und finden müssen. Bei den Abstimmungen geht es daher oft – im Gegensatz zum Nationalrat, wo so gut wie immer vor den Abstimmungen klar ist, wie sie ausgehen – wirklich um jede Stimme!
„starkeAbgeordnete.at“: Was können Sie zum Umgangston zwischen den Fraktionen / einzelnen Abgeordneten in den Plenardebatten und Ausschusssitzungen der beiden Parlamente sagen?
Ulrike Lunacek: In den Plenardebatten und auch Ausschusssitzungen geht es in beiden Parlamenten oft heftig her, je nachdem was auf der Tagesordnung steht. Im Plenum des Europäischen Parlaments gibt es nicht so viele Zwischenrufe – vor allem weil in 24 Sprachen debattiert wird, und einfach nicht alle alles verstehen, um gleich reagieren zu können. Auch ist der Plenarsaal mit 751 Abgeordneten (MEPs) viel größer als der Sitzungssaal des Nationalrats, das heißt die/der MEP, die/der einen Zwischenruf setzen möchte, muss viel lauter schreien als im Sitzungssaal des Nationalrats – und in der Sprache, die der/die RednerIn versteht, um verstanden zu werden, denn bei der eigenen Rede hast du ja keine Kopfhörer auf.
Im Gegensatz zum Nationalrat gibt es im Europäischen Parlament die Möglichkeit der „Blauen Karte“, damit kann jede/r MEP einer/m anderen eine 30 Sekunden dauernde Frage zum Thema stellen, und der/die Angesprochene kann 30 Sekunden darauf reagieren – da kann es schon auch einmal heftig hergehen.
„starkeAbgeordnete.at“: Wie funktionierte die Zusammenarbeit in der Delegation / in der Fraktion auf europäischer Ebene?
Ulrike Lunacek: Sehr offen und gut. In der Delegation, auch in der Fraktion gibt es zu allen heiklen Punkten eine offene Diskussion und manchmal wird abgestimmt. Einzelne Abgeordnete sind dennoch frei, selbst zu entscheiden, wie sie abstimmen, da gibt es bei den Grünen auch keine Sanktionen – wie etwa, dass sie, wie dies im Nationalrat bei anderen Parteien immer wieder passiert ist – nicht wieder für die nächste Legislaturperiode aufgestellt werden. In diesen Diskussionen geht es oft um wichtige Details, zum Beispiel dass an sich gute Berichte für Grüne schwierige Details beinhalten – wie dass wenn der Terminus „saubere Energie“ vorkommt, da wird meist Atomkraft mitgemeint, weil sie keinen CO2 Ausstoß hat.
„starkeAbgeordnete.at“: Welche Rolle spielen Lobbygruppen in Brüssel/Straßburg? Welche Rolle spielen sie in Wien?
Ulrike Lunacek: Sowohl im Europäischen Parlament wie auch im Nationalrat spielen Lobbygruppen eine große Rolle. In Wien wurde erst vor einigen Jahren beschlossen, dass VertreterInnen der Sozialpartner nicht gleichzeitig im Nationalrat sitzen sollen. Im Europäischen Parlament gibt es mittlerweile ein Lobby-Register. Ein Skandal im Jahr 2011 half dabei: Damals war unter anderem der frühere österreichische Innenminister und ÖVP-Spitzenkandidat von 2009 und dann MEP, Ernst Strasser, in eine Falle getappt und erklärte sich gegenüber als Lobbyisten getarnten JournalistInnen, die die Situation heimlich filmten, bereit, gegen 10.000 € einen Abänderungsantrag für ein Gesetz im Europäischen Parlament einzubringen. Daraufhin gelang es einer breiten Allianz von Abgeordneten mehrerer Fraktionen, mit starkem Einfluss mehrerer Grüner, ein Lobby-Register ins Leben zu rufen. Um darin aufzuscheinen, müssen die Unternehmen/Organisationen einige Details bekannt geben: Zum Beispiel wieviel Geld sie pro Jahr für Lobbying ausgeben. Nur wenn eine Organisation in diesem Register eingetragen ist, gibt es den Ausweis, mit dem Personen, ohne sich jedes Mal beim Eingang ins Europäische Parlament registrieren lassen zu müssen, Zugang haben. Das heißt jedoch auch, dass MEPs und ihre Büros sowie die Angestellten des Europäischen Parlaments an der Art des Zugangsausweises sofort erkennen, ob jemand registriert ist oder nicht. Bei Nicht-Registrierung ist Misstrauen angesagt.
„starkeAbgeordnete.at“: Wie geht man persönlich mit Anfragen von VertreterInnen verschiedener Lobbys um?
Ulrike Lunacek: Wir Grüne haben vereinbart, dass wir uns nur mit VertreterInnen von Organisationen treffen, die sich ins Lobbyregister eintragen ließen. Mit Ausnahmen, wenn es für eine Recherche, für das Erlangen wichtiger Informationen hilfreich ist.
„starkeAbgeordnete.at“: Wie sehr ist man auf die Informationen von Interessenvertretungen angewiesen?
Ulrike Lunacek: Lobbying und Interessenvertretungen sind ja nur dann problematisch, wenn es gleichzeitig Bestechungsversuche gibt. Compliance-Regelungen einzuhalten, ist da für beide Seiten sehr wichtig. Dabei hilft auch der Legislative Fußabdruck, der ebenfalls auf unsere Initiative hin mittlerweile im Europäischen Parlament verpflichtend ist. Nach dem Motto: Transparenz ist der erste Schritt zur Besserung. Aber Lobbying und Interessen zu vertreten ist ja nicht per se negativ. Auch diverse NGOs betreiben Lobbying. Der Unterschied ist, dass ihre Budgets üblicherweise gering sind und sie versuchen nicht, mit illegalen Mitteln zu ,überzeugen‘.
„starkeAbgeordnete.at“: Wie sehr steht man als Mitglied des Europäischen Parlaments und als Abgeordnete zum Nationalrat in der Öffentlichkeit? Gibt es diesbezüglich Unterschiede?
Ulrike Lunacek: Klar steht man in der Öffentlichkeit. Das Ausmaß hängt von Funktion, Thema und Persönlichkeit beziehungsweise auch Medienkontakten ab. Aber jemand, der nicht eine gewisse Lust an der Öffentlichkeit hat oder sich vor öffentlicher, teilweise auch unfairer Kritik fürchtet, sollte nicht in die Politik gehen. Ein Präsenz- und Aufmerksamkeitsproblem gibt es zwischen Nationalrat und Europäischem Parlament: Es gibt 183 Nationalratsabgeordnete, die die meiste Zeit ihrer politischen Tätigkeit in Österreich arbeiten und präsent sind. Es gibt derzeit 18 österreichische Mitglieder des Europäischen Parlaments, die – wenn sie ihre Arbeit im Europäischen Parlament ernst nehmen – die Hälfte bis ein Drittel ihrer Zeit außerhalb Österreichs verbringen. Schon alleine dies erlaubt es nicht, so viel wie nötig in Österreich bei Veranstaltungen, Interviews und so weiter anwesend zu sein. Außerdem ist es bei vielen Medien immer noch so, dass „die EU“ als Ausland gilt, und Innenpolitik oder Chronik meist Außenpolitik ‚schlägt‘. Auch die KorrespondentInnen in Brüssel oder Straßburg tun sich oft schwer, auch interessante und wichtige Themen bei ihren Chefredaktionen unter zu bringen. Deshalb sind soziale Medien eine wichtige Form der Arbeit von Mitgliedern des Europäischen Parlaments geworden.
„starkeAbgeordnete.at“: Sollten die Ausschusssitzungen im Nationalrat nach dem Vorbild des Europäischen Parlaments öffentlich abgehalten werden?
Ulrike Lunacek: Ja klar! Und nur in besonderen Fällen und mit Extra-Beschluss hinter verschlossenen Türen.
„starkeAbgeordnete.at“: Wie viel fachliche / wissenschaftliche / legistische Unterstützung haben Sie in den beiden Parlamenten erhalten?
Ulrike Lunacek: Im Nationalrat hat der Grüne Klub die fachliche Unterstützung durch ReferentInnen für alle Nationalratsabgeordnete strukturell verankert. Aber im Nationalrat haben die Ausschüsse beispielsweise keine eigenen Sekretariate, die Abgeordnete sowohl inhaltlich als auch zum Beispiel bei der Formulierung von Gesetzen/Entschließungen unterstützen. Im Europäischen Parlament gibt es das. Im Europäischen Parlament ist auch die Ausstattung der MEP-Büros um vieles (!) großzügiger als im NR, und für alle gleich geregelt. Jede/r MEP hat zum Beispiel rund 21.000 € pro Monat für AssistentInnen zur Verfügung. Im Nationalrat macht jeder Klub eigene Regeln, wie das Klubbudget aufgeteilt wird.
Im Nationalrat gibt es auch – im Gegensatz zum EP aber auch etwa zum Deutschen Bundestag – keine wissenschaftlichen Dienste, die den Abgeordneten direkt zur Verfügung stehen – was im Nationalrat eine Abhängigkeit gerade im Gesetzgebungsverfahren von den Ministerien bedeutet. Und diese arbeiten üblicherweise nur den Regierungsparteien zu.
„starkeAbgeordnete.at“: Was kann der österreichische Nationalrat in seiner Arbeitsweise vom Europäischen Parlament lernen? Was kann umgekehrt das Europäische Parlament vom österreichischen Nationalrat lernen?
Ulrike Lunacek: Abgesehen vom bereits gesagten: Der Nationalrat kann vom Europäischen Parlament die fraktionsübergreifende Kooperation lernen. Das gemeinsame Suchen nach Lösungen statt immer nur Konfrontation zwischen Regierungs- und Oppositionsparteien. Kompromisse müssen im Nationalrat derzeit nur bei 2/3-Mehrheiten gesucht werden. Umgekehrt könnte das Europäische Parlament vom Nationalrat lernen, dass sich MEPs, die zu einem Thema im Saal sind, vorne zusammensetzen. Erstens sieht das für die BesucherInnen auf der Galerie und im Fernsehen oder Livestream besser aus und zweitens schafft es mehr Möglichkeiten – zum Beispiel für Zwischenrufe. Das macht die Debatten lebendiger.
Interview und Text: Maximilian Blassnig.
Bild: © Parlamentsdirektion / WILKE

Mag.a Ulrike Lunacek war von 1999 bis 2009 Abgeordnete zum Nationalrat (Die Grünen). Danach war sie von 2009 bis 2017 Mitglied des Europäischen Parlaments. Ab 2014 fungierte Ulrike Lunacek als eine der VizepräsidentInnen des Europäischen Parlaments.
Ulrike Lunacek auf der Website des österreichischen Parlaments: https://www.parlament.gv.at/WWER/PAD_08244/index.shtml
Ulrike Lunacek in der Abgeordneten-Datenbank des Europäischen Parlaments: http://www.europarl.europa.eu/meps/de/97017/ULRIKE_LUNACEK/history/8